Der Zahlensalat um die Jihadisten

5. Juni 2014

Der Nachrichtendienst des Bundes weibelt für den Lauschangriff mit diffusen Bedrohungsszenarien

Von Hubert Mooser, Newsnet

Die Werbebeilage im Tagesanzeiger vom 2. Juni zum Thema Sicherheit machte auf den ersten Blick einen sachlichen Eindruck - bis auf die übergrosse Inszenierung von Markus Seiler, dem Chef des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) auf der Frontseite. In der Mitte des Blattes warnt Seiler in einem doppelseitigen Interview: «Das Internet ist ein idealer Ort, um Menschen zu radikalisieren. Die Radikalisierung, etwa durch terroristische Organisationen, findet quasi daheim statt.» Und: Die Schweiz müsse sich hinterfragen.

Auf was der NDB-Chef anspielt, ist klar: Auf junge Schweizer, die in sogenannte Jihadgebiete wie Somalia, Afghanistan, Pakistan und Syrien reisen. Ein entsprechender Hinweis ist in einer separaten Box dem Interview mit Seiler dazugestellt. Der NDB-Chef und seine Leute, die Seiler im Gespräch «James Bonds» nennt, machen seit Wochen mit angeblich explodierenden Zahlen über Jihad-Reisende Stimmung für ein neues Nachrichtendienstgesetz.

«Ein Schönheitsfehler»

Seit der Fichenaffäre von 1989 sind dem Geheimdienst die Hände gebunden. Verteidigungsminister Ueli Maurer (SVP) und der Bundesrat wollen dem Amt mehr Instrumente geben. Der Geheimdienst soll Telefone abhören, private Räume verwanzen oder in Computer eindringen können, wie das ausländische Partnerdienste des NDB bereits tun dürfen. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates (SIK) legte die Beratungen im April auf Eis, weil drei Kommissionen kritische Mitberichte dazu verfasst hatten.

Nachrichtendienstchef Seiler zeichnet in Interviews dagegen Bedrohungsszenarien, die von jungen angeblichen Jihadisten aus der Schweiz ausgehen, damit ihm das Parlament die Erlaubnis zum grossen Lauschangriff erteilt. Die sich häufenden Berichte in den Medien über Schweizer Jihadisten haben prompt Politikerinnen wie die St. Galler Ständerätin Karin Keller-Sutter (FDP) und die Luzerner Nationalrätin Ida Glanzmann alarmiert. Sie forderten eine Offensive gegen Jihadisten und präventive Überwachungsmöglichkeiten für den Schweizer Geheimdienst.

«Das Ganze hat aber einen Schönheitsfehler», sagt Nationalrat Ueli Leuenberger von den Grünen, die gegen das neue Nachrichtengesetz mobilisieren. «Es fällt auf», so der Genfer, «dass seit Wochen und Monaten unterschiedliche Zahlen in den Medien herumgeistern.» Terrorismus müsse man selbstverständlich bekämpfen. Die ganze Geschichte sei stark aufgebauscht worden.

So steht im NDB-Lagebericht 2014: Seit 2001 haben sich mittlerweile rund 40 Jihad-Reisende aus der Schweiz in verschiedene Konfliktregionen begeben. Der NDB geht von rund 15 Jihad-Reisenden in Richtung Syrien aus; jedoch sind fast alle diese Fälle nach nachrichtendienstlichen Kriterien unbestätigt.

Nur zwei Quellen verifiziert

Knapp einen Monat vorher berichtete Le Temps mit Verweis auf den NDB von zirka zehn Fällen mit Bezug zum Bürgerkrieg in Syrien. Zeitweise war auch von 40 bis 50 Jihadisten die Rede. Der normalerweise diskrete NDB gibt auf Anfrage folgende Zahlen bekannt:

Bis Mai 2013: 20 Jihad-Reisende aus der Schweiz, davon sieben bestätigte Fälle. Bis Mai 2014: 40 Jihad-Reisende, davon 13 bestätigt. Und von den 15 Jihad-Reisenden sollen inzwischen fünf bestätigt sein. Bestätigt heisst, dass die Angaben bei zwei nachrichtendienstlichen Quellen verifiziert wurden - was aber nicht bedeutet, dass es sich auch um potenzielle Terroristen handelt. Mit anderen Worten: Trotz Bedrohungsszenarien des Nachrichtendienstes sind die Fallzahlen tief. Leuenberger zweifelt, ob man am Ende tatsächlich von allen 20 Fällen sagen könne, es handele sich um überzeugte Jihadisten.

Jurist und Nationalrat Daniel Vischer (Grüne, ZH) sagt zur Bedrohung durch Jihadisten: «Das ist lächerlich.» Man wolle nur Leute ohne Tatverdacht überwachen. Gebe es einen tatsächlichen Verdacht, dann könnten die Untersuchungsbehörden bereits heute weitergehende Überwachungsmöglichkeiten anordnen. Für den NDB müsse man dafür keine speziellen Instrumente schaffen.

 

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